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Ein Jahr

Ein Jahr ist es jetzt her, dass Dietrich diese Welt verlassen hat. Nein, das klingt falsch. Er hat weder diese Welt verlassen noch die, die er liebt und die ihn lieben. Sein Körper ist nicht mehr da, das ist alles. „Es ist doch nur ein Körper“, würde er selbst sagen. Seine Seele ist präsent - für mich und für viele, die ihm nahestanden.


Natürlich haben wir gelegentlich darüber gesprochen, wie es sein würde, wenn er stirbt. Aufgrund unseres großen Altersunterschiedes war das ein Thema, an das wir öfter gedacht haben als gleichaltrige Paare es tun (obwohl es für niemanden eine Garantie auf ein langes Leben gibt …). Er hat immer zu mir gesagt: „Ich werde bei Dir und Noa sein. Ich werde Euch begleiten. Ich werde immer für Euch da sein.“ Ich spüre, dass das so ist. Es ist nicht nur die Erinnerung an ihn, sondern er ist wirklich da.


Trotzdem ist es so seltsam und traurig. Für mich war er einer dieser Menschen, ohne die man sich die Welt nicht vorstellen kann. Es ist so ähnlich wie eine Welt ohne Prinzessin Diana oder ohne Michael Jackson. Das geht einfach nicht. Eine Welt ohne Dietrich? Unvorstellbar.

Er war einer dieser Menschen, die einen Raum betreten und mit ihrer Aura erfüllen konnten. Er hatte eine faszinierende Ausstrahlung, eine immense Stärke, und er sprudelte über vor Ideen und Inspiration. Er inspirierte immer jeden. Wirklich immer. Jeden. Er hatte ein unglaubliches Feingespür für Menschen (und Tiere und Pflanzen). Er spürte und sah, wer da vor ihm stand. Er wusste, wer Du bist, er sah Deine Talente und Stärken, Deinen Schmerz, Deine Träume, Deine Sehnsüchte, ohne dass Du ein einziges Wort darüber sagen musstest. Er sah Dinge, die Du selber nicht von Dir wusstest. Deshalb war er ein so großartiger Ratgeber und Coach. So ein großartiger Freund und Vater.


Dietrich war ungewöhnlich, innovativ, (wage)mutig und weitsichtig. Er ging Wege, die noch keiner vor ihm gegangen war. Er schuf Wege, wo vorher keine waren. Er sah Zukünfte, an die keiner glauben wollte, und er träumte nicht nur davon, sondern ging die Schritte und tat die Dinge, die dafür nötig waren, diese Zukünfte zu erschaffen. Dies führte manchmal zu sehr riskanten Entscheidungen, und oft war ich die, die ihn bremsen und manchmal auch vor Enttäuschungen bewahren wollte. Aber er ließ sich nicht bremsen. Manchmal bereute er hinterher und sagte „hätte ich nur auf dich gehört“ … aber mindestens genauso oft war ich diejenige, die demütig und dankbar anerkennen musste, dass ein bisschen mehr Vertrauen in die magische Visions- und Schöpferkraft dieses unglaublichen Genies angebracht gewesen wäre.


Ich vermisse ihn. Ich spüre und weiß, dass er bei mir ist, dass er lebendig ist, dass er nahe ist, vielleicht auf eine Art sogar näher als vorher. Aber ich vermisse ihn. Ich vermisse es, morgens den ersten Kaffee mit ihm gemeinsam zu trinken. Und abends ein Gläschen Wein zu trinken und darüber zu reden, was uns bewegte - Tiefsinniges und auch ganz Alltägliches. Ich vermisse die vielen Stunden, die zwischen Kaffee und Wein lagen, in denen wir uns kaum sahen, da jeder seiner Arbeit nachging. Oder besser gesagt: seinem Werk. Er war einer dieser seltenen Menschen, die ein Werk, ein Lebenswerk geschaffen haben. Er hat nie einfach nur gearbeitet. Alles, was er tat, diente seiner Vision. Mit allem, was er tat, wollte er die Welt zu einem besseren Ort machen, wollte er inspirieren und heilen.

Ich vermisse die langen Stunden, in denen er sein Lebenswerk erschuf und ich meiner Arbeit nachging und mein Bestes tat, ihn zu unterstützen. Die meiste Zeit haben wir uns gar nicht gesehen. Aber er war immer da und immer ansprechbar, immer bereit zuzuhören und zu helfen.

Jetzt ist er nicht mehr auf diese Art da. Ich habe nicht mehr die Möglichkeit, an seine Bürotür zu klopfen und ihn um Rat zu fragen.


Er hatte die Fähigkeit, komplizierte Probleme und verfahrene Situationen mit einem einzigen Satz - begleitet von einem lauten Lachen - hinwegzufegen. Er sah die Dinge aus einer SO anderen Warte, von der aus große Dinge plötzlich klein und unbedeutend erschienen, aber andere, vermeintlich kleine Dinge, wichtig wurden. Ihm war es möglich, Lösungen zu schaffen, wo jeder andere nur unlösbare Probleme sah, zu heilen, wo jeder andere nur Unheilbares sah. Er hat im Schlamm gegraben und Goldklumpen freigelegt, wo vorher wirklich nur Schlamm war.


Ich vermisse es, wie er meinen Schmerz mit einem Blick aus seinen durchdringend grünen Augen auflösen konnte. Ich vermisse seine verrückten Ideen, seinen unverbesserlichen Optimismus und auch seine tiefe Traurigkeit. Ich vermisse die Atemlosigkeit und gleichzeitig die Möglichkeit, überhaupt atmen zu können.


Wir waren vor vielen Jahren aus der Kirche ausgetreten. Vor noch viel mehr Jahren hat Dietrich sein Theologiestudium geschmissen, weil er es nicht ertragen hat, dass dort keiner wirklich an das Göttliche geglaubt hat. An das, woran er nicht nur glaubte, sondern was er erlebte und lebte. Im Großen und im Kleinen. Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Vergebung - das waren für ihn keine leeren Worte, sondern das hat er tagtäglich gelebt. Manchmal zu meiner Verzweiflung … wenn er mal wieder die andere Wange auch noch hingehalten hat. Dennoch sind es diese unerschütterliche Großherzigkeit, das kindliche Urvertrauen und die unbefleckte Genialität und Kreativität, die unvergessen bleiben.


Ich bin dankbar für die Zeit, die wir zusammen hatten, für all die Hochs und auch die Tiefs, die wir gemeinsam überwunden hatten. Ich bin dankbar für das Leben, das wir zusammen hatten. So abgedroschen es auch klingen mag, aber Dietrichs Tod hat mir sehr bewusst gemacht, wie wertvoll Zeit ist - die Zeit, die wir mit denen haben, die wir lieben. Der Moment jetzt - das ist das Leben. Ja, Träume und Ziele und Visionen sind wichtig, aber das Leben passiert JETZT. Genieße es jetzt, sei dankbar für das, was Du jetzt hast und für diejenigen, die jetzt Dein Leben mit Dir teilen. Der Moment jetzt ist vielleicht nicht perfekt, aber er ist Dein Leben. Denn am Ende war die Zeit immer zu kurz.


Ich möchte mich bei allen von Herzen bedanken, die Dietrich und mich in den letzten Monaten seines Lebens unterstützt haben und die mich nach seinem Tod unterstützt haben. Ich kann all Eure Namen nicht aufzählen, deshalb beschränke ich mich namentlich auf die vier allerwichtigsten Menschen:

Ulrike und Christof - danke für Eure hingebungsvolle Hilfe und Fürsorge. Ihr habt DEN Unterschied gemacht für Dietrich und für mich. Danke für ALLES - ich werde Euch nie vergessen, was Ihr für uns getan habt.

Larissa - Du warst in der ganzen Zeit meine Stütze und meine Zuflucht. Ohne Dich wäre NICHTS von allem möglich gewesen. Du hast mir Kraft und Trost gegeben und mir so wahnsinnig viel geholfen. Du bist unglaublich - ich liebe Dich.

Noa - ich bin so stolz auf Dich! Du bist so wundervoll und stark. Danke dafür, wie liebevoll Du Dich um Deinen Daddy gekümmert hast, wann immer Du da warst. Danke für Dein immer offenes Ohr und für Deine vielen Gespräche mit ihm. Du hast Deinen Daddy verloren und warst dennoch für MICH da. Dein Daddy und ich haben Dich über alles lieb!


Und danke an alle, die ich jetzt namentlich nicht genannt habe, die für Dietrich und mich da waren - ich bin Euch von Herzen dankbar. Eure Natalie

 
 
 

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